SALZBURGER FESTSPIELE

Grigory Sokolov: Wunder wie in Trance und Traum

Von Karl Harb | 26.08.2013 - 09:38

Grigory Sokolovs Klavierspiel bewegt sich mehr und mehr im intergalaktischen Raum. Längst ist der russische Pianist sein eigenes Universum, und also ist es auch egal, wo er spielt.

Grigory Sokolov
Klavierspiel wie von einem anderen Stern: Grigory Sokolov.               BILD: SN/SF/LIENBACHER


Wo immer er aber spielt, ist die Utopie letztmöglicher Erfüllung so nah wie kaum je sonst. Am Freitag also Gott sei Dank wieder im Großen Festspielhaus. Und was für ein Programm! Schon allein wie Sokolov die unterschiedlichen Bewegungsarten der Vier Impromptus, D 899, von Franz Schubert gewichtet: bei immer dichter werdendem Satz das unablässige Pochen in c-Moll, die tänzerische Trioleneleganz in Es-Dur, das sanfte Wellengekräusel in Ges-Dur, die glitzernden Sechzehntelkaskaden in As-Dur - ein Wunder pianistischer Bildhaftigkeit. Was sich dazu melodisch und harmonisch abspielt: die Aufhebung des Komplizierten im Schlichten, die Sublimierung des Schlichten im Komplexen - nur zum Staunen, welche Register, Klänge und Farben unter den magischen Fingern dieses Meisters ein Klavier bereithalten kann.

Entführung in ein Labyrinth

Dann die Drei Klavierstücke, D 946, von Schubert. In jedes einzelne nimmt Sokolov die Hörer mit wie in ein Labyrinth. Hinter jeder Ecke tun sich überraschende, ungeheure Dinge auf, beleuchten eine andere Szenerie, verzweigen sich neue, kühne Wege, gabeln sich wieder, um doch zu einem Ausgang zu führen: Sokolov scheint alle Geheimnisse zu kennen und spielt sie auch mit einem unglaublichen Variantenreichtum in Anschlag, Melodiebildung, dynamischen Finessen, Artikulation, Phrasierung aus. Es ist, wie alles auf diesem anderen Stern, schlichtweg unbeschreiblich. 75 Minuten vergingen wie in Trance. Und es kam noch kolossaler: über 50 Minuten, länger als gewohnt, Beethoven, die Hammerklaviersonate, vielleicht das größte Rätselwerk der Klavierliteratur.

Sokolov schont nichts und niemanden. Er überwältigt, aber nicht im virtuosen, sondern im radikalsten Sinn. Das ist nur noch ein Spiel der Entgrenzungen. Dagegen kann man, so rigoros gedacht, so kompromisslos an und über die Grenzen gespielt das ist, auch Vorbehalte hegen. Am Ende aber, als alle Stauch-, Spreiz- und Sprengkräfte, alle Ausreizungen des Klangs sich in der gigantischen Doppelfuge entladen, die Sokolov mit leichtester Anmut und schwerster Energie in den Saal zaubert, hat auch Beethoven jenen Stern erreicht, auf dem Sokolov sitzt: zwei einsame Musikdenker, traut vereint. Das ist nicht nur eine Sonate, sondern auch ein Interpret außerhalb von Zeit und Raum.

Die Musik erstrahlt im Dunklen

Gilt es da noch, auf die reale Zeit zu schauen? Im Großen Festspielhaus - das wie alle Orte, an denen Sokolov spielt, so abgedunkelt ist, dass sich alles auf die Musik konzentriert - ist es 23.40 Uhr. Und jetzt beginnt, in einem immer gleichbleibenden Auftrittsritual, das die Sokolov-Gemeinde genau einzuschätzen weiß, der dritte Teil: sechs Zugaben diesmal, fünf Petits Fours von Rameau, mit den kühnsten, verrücktesten, entrücktesten Verzierungskunststückchen, die sich denken lassen, dann noch Brahms. Jetzt ist das Klavier nur noch ein Zauberkasten für Gute-Nacht-Märchen und Sokolov der Traumonkel. 30 Minuten dauert dieser glückselige Spuk. Aber wir sind nicht eingeschlafen, sondern putzmunter geworden. Jetzt müssen wir in die Nacht hinaus. Die Erde hat uns wieder. Aber die Gedanken, die fliegen...