24. Februar 2014 | 09.15 Uhr |
Der Gigant: Grigory Sokolovs Klavierabend Düsseldorf. In der Düsseldorfer Tonhalle spielte der russische Pianist Werke von Chopin. Er gab sechs Zugaben. Von Wolfram Goertz |
Zwei Halbzeiten lang hat Vater nur Werke von Chopin gespielt, jetzt ist er bei Franz Schubert angelangt. Beide sind gleichsam seine eigenen Großväter, sie erzählen ihm die Geschichten, die er für sich und für uns braucht – lauter kleine Prosa mit der Tendenz zum Leisen, Tastenden, Grübelnden und Einsamen. Über den zehn Chopin-Mazurken nach der Pause hängt fast ein Schweigegelübde, und die Schlussakkorde sind selten Fäuste des Nachdrucks. In ihnen blickt Sokolov vielmehr wie durchs Fenster, und es ist, als finde sein Auge immer eine Ferne noch hinter dem Horizont. Grigory Sokolov, dieser 63-jährige russische Pianist, der mit 16 Jahren den legendären Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau gewann, wobei ausgerechnet Emil Gilels als Juryvorsitzender fast erschrak, wie ein junger Mensch so gigantisch Klavier spielen könne – dieser Sokolov also hat erkennbar nur ein Ziel: sich das Leben als Pianist unendlich schwer zu machen. Er könnte ein Publikum fix abfüllen mit pianistischen Sahnetorten und mit Prickelsekt. Sokolov widerstreben derlei vorschnelle Effekte aber. Heute erklärt er uns, wie erfüllend es ist, sich von der Klaviatur als Schlachtfeld wegzuträumen und es als Allee für Seelenreisen zu betreten. Man ist geneigt zu glauben, als Spielanweisung stehe "molto depressivo" in den Noten. Chopins h-moll-Sonate hat in solcher Temperamentslage etwas Defensives. Sie klirrt nicht, sondern breitet sich aus; jeder Ton hat Gewicht, aber nie Schwere. Sokolovs Majestät ist federleicht. Sie schwebt. Sogar die Wucht des Finales besitzt humanes Maß, Chopin ist ein melancholischer Wanderer in die Zukunft, kein Donnerer, kein Marktschreier. Zwischendurch kommt es im Scherzo zu einem Lächeln auf dem Gesicht der Musik. Es verschwindet so schnell, wie es gekommen ist. Die Zugaben sind der Fluchtpunkt des Abends. Sokolov zwingt uns zu begreifen, dass Schubert nach Chopin keine Sättigungsbeilage ist, sondern dessen Bruder im Geiste. Die drei Impromptus aus Opus 90 gefrieren schier, wenn sie erklingen. Sie sind Winterreisen ohne jede Verbindlichkeit und weisen zurück zu den Mazurken, dieser tönenden Heimatsehnsucht, in welcher Chopin den Verlust der Heimat erst ahnt und bald betrauert. Dann spielt Sokolov noch Schuberts Klavierstück Es-Dur D 946, bevor er mit zwei abermals zarten Chopin-Mazurken den Rahmen rundet, in dem dieser denkwürdige Abend spielt. Sokolov kann am Klavier alles, aber er müht sich zu zeigen, dass er als Interpret keine Rolle zu spielen scheint. Die Musik allein spricht. Sokolov selbst guckt völlig neutral. Ein Gigant als Leisetreter. Im Schatten seines gewaltigen Rundrückens wird Musik behutsam geboren, nicht unter Wehen gepresst. Und was still zu uns kommt, soll nicht von Lärm behelligt werden. Sokolovs Unerschütterlichkeit hilft ihm, Musik gegen alle Oberflächenreize zu verteidigen. Seine Kraft hat eine unendliche Sanftmut. Stücke ziehen vorüber, und wenn sie vorbei sind, bleiben wir, sein Publikum, fassungslos und erschüttert zurück. Sokolov ist vermutlich der bedeutendste Pianist der Gegenwart.
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